Heut, es ist kurz vor Mitternacht, war ein komischer Tag. Irgendwie sind derzeit immer alle Tage irgendwie komisch, aber das wäre ein anderes Thema, welches an dieser Stelle nicht Thema sein soll. Es reicht schon, dass in der ukrainischen Hauptstadt zur Stunde gezielt Menschen durch Scharfschützen erschossen werden und die Welt schaut, einmal mehr, einfach nur zu. Klar sind Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius derzeit in der Ukraine zu Besuch und auch die EU berät in Brüssel über Sanktionen. Aber mal ehrlich? Sanktionen, wozu und welche? Die Ukraine hat mit Russland einen starken Partner im Rücken, da ist man gar nicht auf Europa angewiesen. Die Schweiz könnte Konten sperren, aber die Gelder sind in meinen Augen eh schon lange nicht mehr auf unseren, sondern auf russischen Banken. A propos Schweiz, warum hört man von unserer Regierung nichts zu dem Thema? Klar, die Schweiz ist neutral. Trotzdem dürfte man an die Adresse von Diktator Wiktor Janukowytsch mal erwähnen, dass das, was er da gerade abzieht, so gar nicht geht.
Aber kommen wir zum Hauptpunkt von diesem Blogpost: ich hatte heute die Möglichkeit, "mit Kiew zu skypen". Namen darf ich an dieser Stelle keine nennen, die Angst in der Stadt vor Repressionen ist zu gross. Darum nennen wir die Frau aus Kiew an dieser Stelle einfach mal Julia, sie ist 23 Jahre jung und arbeitet in der Modebranche. Derzeit kümmert sich Julia um ihren Job allerdings eher weniger, sie ist, zusammen mit ihren drei WG-Freunden, auf den Strassen der ukrainischen Hauptstadt unterwegs. Auf meine Frage, ob sie denn auch auf dem Maidan-Platz sei, sagt sie: "Ja, ich war auch schon da. Mehrmals sogar. Aber aktuell ist es kein Platz für Frauen, die Männer sind da und markieren Präsenz. Wir halten uns im Hintergrund und versorgen Verletzte." Die medizinischen Zustände seien katastrophal, erzählt Julia weiter. Es fehle vor allem am Material. Notdürftig wurde so heute eine Hotellobby zu einem Notfallspital umfunktioniert. Alle würden sich gegenseitig helfen, aber gegen die Waffen der Polizei hätten die Protestierenden fast keine Chance. Steine, Holzstöcke und ähnliche Sachen würden eingesetzt. Ich frage weiter, welches Ziel sie denn verfolgen würden: "Freiheit! Wir wollen einfach Freiheit, wir haben keine Lust mehr wie Sklaven behandelt zu werden!" Uns im Westen sei das vielleicht gar nicht so bewusst, wie stark der Einfluss von Russland auf die Ukraine sei und welche Macht Präsident Janukowytsch inne hält. Ja, stimmt: ertappt. Was wissen wir von der Ukraine? Fussball EM war mal da, mit Schewtschenko. Frau Timoschenko wurde verhaftet. Berühmte Boxer kommen aus der Ukraine. Die Halbinsel Krim und deren Sekt. Und dann noch einmal Fussball mit Schachtar Donjezk und Dynamo Kiew, diese mussten ihr Euro League Heimspiel von heute Abend bekanntlich auf Zypern spielen Und, nicht ganz unwichtig, durch die Ukraine gehen wichtige Pipelines, welche Gas nach Osteuropa liefern.
"Wenn es dunkel wird, sollte man die Wohnung derzeit nicht mehr verlassen, das ist zu gefährlich. Du weisst nicht, wem du trauen kannst auf der Strasse. Die Männer von der Spezialeinheit Berkut sind überall und sie gehen nicht zimperlich mit dir um. Erst recht nicht, wenn du eine Frau bist," erzählt Julia vom Leben in Kiew. Schwierig sei auch das Einkaufen. Es gäbe lange Schlangen in den Ladengeschäften, viele Produkte seien gar nicht mehr erhältlich. Als "Beleg" dieser Aussage, schickt sie mir Fotos. Und führt dann aus: "Ein paar Freunde von mir sind losgefahren Richtung Polen, mit ihrem Auto. Aber sie konnten nicht mehr als 100 Liter Benzin besorgen, denn Benzin wird hier derzeit nicht mehr wirklich verkauft. Die U-Bahn fährt auch nur noch selten. Ich drücke meinen Freunden die Daumen, dass sie es schaffen!" Die Grenzen zu Polen sind derzeit, laut diversen Medien, blockiert. Eine Ein- und Ausreise scheinbar unmöglich. Zu einem offiziellen Visa kommt man laut Julia aktuell in der Ukraine auch nicht, denn die meisten Botschaften haben ihre Tore geschlossen, lassen nur noch Landsleute rein und die ukrainischen Behörden arbeiten derzeit auch nur noch mit halber Kraft. Geschweige denn, dass sie Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen würden, das Land zu verlassen.
Mir drängt sich die Frage auf, in wen oder was man denn in dieser Situation eigentlich noch seine Hoffnung legt... "Gute Frage, wir hoffen halt einfach, das Land ist gespalten. Der Westen hat genug, im Osten des Landes ist es eher ruhig, da gibt es keine Demonstrationen" sagt die 23jährige. Was ist denn mit Vitali Klitschko, der bei uns in den Medien Tag für Tag auftaucht? "He is a bastard!", sagt Julia über Skype. Er sei einfach gerne im Mittelpunkt, aber viel mehr wäre da nicht. Er hätte in der Ukraine auch nicht so viel Macht, wie man im Westen vielleicht vermuten würde. Ähnlich denkt sie über Obama, er sei ein Waschlappen, seine Frau, die hätte da die Hosen an. Schliesslich bringe ich auch noch Putin ins Spiel, der sei bis Ende der Woche noch mit Sotchi beschäftigt, danach habe sie Angst vor ihm und seinem Einfluss. "Petro Poroschenko wäre ein guter Mann für die Ukraine," fügt Julia hinzu. Er sei ein Schokoladenproduzent, so einer wie in der Schweiz und er besitzt zudem einen liberalen TV-Sender. Dazu ist er ein enger Vertrauter von Wiktor Juschtschenko, dem ehemaligen Präsidenten - der vom Geheimdienst mit Dioxin vergiftet wurde. Er wäre einer, aber dazu bräuchte es erst Neuwahlen und diese müssten dann auch noch fair verlaufen. All das sei aber in ganz weiter Ferne, sagt Julia ziemlich resigniert.
Und nun, wie weiter? Sie hätte eigentlich nichts zu verlieren, erzählt sie. Eine Familie haben sie eh nicht mehr und vielen "Freunden" könne man auch nicht mehr vertrauen. Darum geht sie Tag für Tag auf die Strasse, erst einkaufen bei Tageslicht und am Abend kümmert sie sich um die verwundeten Demonstranten. Auf meine abschliessende Frage, was wir denn hier, in unserem sicheren Land Schweiz, tun könnten für die Menschen in der Ukraine sagt sie bescheiden: "Redet über uns, macht die Demonstrationen und die Menschenrechtsverletzungen, das Morden und die unbändige Macht des Regimes zum Thema. Und falls politisch Verfolgte bei euch Zuflucht suchen, dann nehmt sie auf." Und dann hat es Julia auf einmal sehr eilig, ihre WG-Kumpels fuchteln mit einem Handy herum. Sie kriegt einen Anruf, ich verstehe ausser "Schwizari" kein Wort. Julia legt auf und sagt, dass ausnahmsweise das Handynetz nicht überlastet wäre und sie nun "ins Zentrum" gehen müsse. Sie werde da gebraucht. "Sprecht darüber, dass bei uns Menschen auf offener Strasse hingerichtet werden und wir nicht einmal mehr genug Verbandsmaterial haben, um die Verletzten zu versorgen. Aber wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter!"
Sie schickt mir noch einen Link, auf welchem ich einen liberal eingestellten TV-Sender mitverfolgen kann, mit Livestream vom Maidan. Ich verabschiede mich mit einem "Hey take care!", sie antwortet mit "Alles wird gut!" und ist weg.
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