14. April 2017

Georges - der Dössegger Joggi aus Marseille

Gestern Abend, erster Abend in Marseille. Nach ein paar Stunden Fahrt und abschliessendem Feierabendstau im Moloch der Grossstadt war das Appartement direkt am Vieux Port erreicht. Herrliche Lage, mit wunderbarem Blick auf den Hafen und die Notre Dame de la Garde - die Wächterin hoch über der Stadt. Am Abend kam dann der Hunger auf, nach einem Pastis machte ich mich auf die Suche nach einem kleinen Restaurant, abseits der grossen Touristenmassen, welche auch Marseille über diese Tage bevölkern. Überraschend die grosse Polizei- und Militärpräsenz vor christlichen Kirchen, man merkt, dass in der Stadt immer noch der Ausnahmezustand gilt. Aber ja, Marseille wäre nich Marseille, wenn nicht in regelmässigen Abständen immer mal wieder eine Sirene heulen würde. Mais alors, zurück zum Abendessen und zum Restaurant. In einer Gasse abseits vom alten Hafen habe ich einen asiatischen Schriftzug entdeckt, davor ein spielendes Kind und in der Gartenbeiz zwei, drei Einheimische - sprich Vietnamesen. Ein kurzer Blick rein, alles voll mit Ausnahme von einem kleinen Tischchen und schon spricht mich die umtriebige Chefin an: "Bonsoir Monsieur, votre table!". Yes, Schwein gehabt. Das Lokal besitzt gerade mal sechs Tische, die Chefin ist im Service, ihr Mann (wie sie mir später stolz erzählt) macht die Küche. Die Abendmenüs kosten ab 10 Euro bis 15.50 Euro, ich entscheide mich für einen vietnamesischen Krabbensalat, ein pikantes Rindfleisch, etwas Rosé du Provence und zum Dessert feine Lychees mit einem Espresso. Total: 12.50 Euro.
Während ich auf mein Essen warte beobachte ich das Treiben im Lokal. Es hat zwei junge Frauen am Handy, eine Familie mit zwei Kindern, einen Tisch mit Asiaten, zwei Studenten und in der Ecke gleich neben meinem Tisch sitzt ein alter Mann mit zerzaustem weissem Haar und einem langen, weissen Bart.  An der einen Hand sind nicht mehr alle Finger dran, und die die noch da sind, machen nicht immer was sie sollen. Irgendwie sieht er aus wie der Nikolaus. Er trägt ein Hemd, dazu ein Sakko und über dem Stuhl hängt  ein Mantel mit vielen Flecken. Neben ihm ein paar Plastiktüten, die er auf einmal hektisch wegräumt, auf dem Tisch ein Notizbuch, Wasser, Tee und Medikamente. Zum Abendessen bestellt er sich ein Omelett, als Nachtisch ein Kokosnusseis. Er murmelt andauernd unverständliche Sachen vor sich hin, summt Melodien, gestikuliert wild herum und schreibt immer wieder hektisch in sein Notizbuch. Das Heft ist fast voll, nur noch eine Seite ist leer, welche er an diesem Abend noch voll schreiben wird. Ich frage mich, was er wohl macht, wenn das Carnet voll ist, hat er in seinen vielen Plastiktaschen ein neues dabei oder hört er auf mit Schreiben? Was überhaupt schreibt er da auf? Ich merke, wie er mich immer beobachtet. Mit der Wirtin spricht er immer mal wieder ein paar Worte vietnamesisch, mit anderen Stammgästen ein paar Brocken Französisch. Aber eigentlich ist er in sich gekehrt, der stille Beobachter. Die Wirtin ist sehr freundlich zu ihm, er scheint zu den Stammgästen zu gehören. Ob er für wohl sein Omelett etwas bezahlen muss? Mann weiss es nicht, klar ist nur, ein anderer Wirt geht zu ihm hin, begrüsst ihn freundlich als "Georges" und sagt ihm, dass wenn er am nächsten Morgen vor 8 Uhr bei ihm erscheine, würde er ihm einen frischen Kaffee offerieren. Er müsse aber dieses Mal pünktlich sein, weil danach gebe es nichts mehr. Georges  grinst und erwidert, dass 8 Uhr doch etwas früh sei. Der andere Mann geht weg und Georges quatscht mich an: "Acht Uhr, das ist viel zu früh. Aber ja, wenn ich später komme, dann gibt er mir wirklich nichts mehr. Mal sehen ob ich wach bin um diese Zeit und wenn nicht, dann gibts halt keinen Kaffee für mich." Den Rest verstehe ich nicht mehr, den murmelt er in seinen langen, weissen Bart. Wenige Sekunden später schreibt er wieder in seinem Heft und schüttelt heftig den Kopf. Auf einmal steht er auf, nein springt quasi auf, wünscht mir einen guten Appetit und geht nach draussen. Er geht ein paar Schritte, setzt sich wieder hin und geniesst die zweite Hälfte von seinem Abendessen. 
Inzwischen habe auch ich gegessen und es war total lecker. Zum Abschluss noch einen Get27 und dann breche ich langsam auf. Ich nicke Georges freundlich zu, sage gute Nacht und wünsche ihm alles Gute. Er lächelt zwischen seinem Bart raus und sagt: "Das wünsche ich ihnen auch, Monsieur". Auf dem Weg in die Wohnung hab ich mich überlegt, wie man wohl in Aarau mit solch randständigen Menschen in den Beizen umgehen würde. Welche Beiz wäre bereit so einen schrägen, aber freundlichen Menschen zu bewirten. In der Waage beim Erich hatten solche Leute ihre Platz, aber heute? Dass sie in einem Platzhirsch oder einem Beluga oder auch nur einer Tuchlaube auftauchen würden, bezweifle ich eher. Aber ja, Marseille ist seit Jahrzehnten ein Sammelbecken von Menschen, welche irgendwo sind in Europa (oder auf der Welt) keinen Platz mehr gefunden haben. Nicht nur ein Schmelztiegel aus verschiednen Nationen und Kulturen, sondern eben auch aus ganz verschiedenen sozialen Schichten - und sie alle vereint eines, sie sind in Marseille zu Hause.