10. Februar 2014

"Das Boot ist voll!"

Erinnert sich noch jemand an den Film von Markus Imhof aus dem Jahr 1980? Die Handlung ist schnell erzählt: Sechs Personen ist 1942, während des Zweiten Weltkriegs, die Flucht in die (damals noch) neutrale Schweiz gelungen, doch eben diese Schweiz beschliesst im August des Jahres eine Verschärfung ihrer Aufnahmebedingungen. Die sechs Flüchtlinge versuchen, auch mit  Komplizenschaft einiger freundlicher Schweizer, durch Kleider-, Rollen- und Papiertausch die gestellten Bedingungen zu erfüllen. Doch der aufmerksame, eidgenössiche Dorfpolizist durchschaut das Spiel, fühlt sich hintergangen und ordnet das offizielle Verfahren an. Das Ende der Geschichte: die auf Grund rassistischer Motive Verfolgten müssen das Land verlassen, die "politisch Verfolgten" dürfen bleiben.


Es macht jetzt keinen Sinn, irgendeinen Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und dem gestrigen Abstimmungssonntag herzustellen. 50,3 Prozent würden diesen vielleicht ja eh nicht verstehen. Fakt ist aber, ich habe mich heute Montagmorgen ziemlich intensiv mit den ausländischen Medien auseinandergesetzt: England, Frankreich und vor allem Deutschland. Von Paranoia ist da die Rede, ein Titel lautet: "Die Rassismus-Chronologie: So fremdenfeindlich ist die Schweiz" oder "Die Schweiz sagt ‹Fuck the EU". Die Liste liesse sich endlos weiterführen, bringt aber nix, da die Entscheidung ja gestern gefallen ist und so die Demokratie funktioniert. Dennoch ist es mir peinlich, in einen Topf mit denen geworfen zu werden, welche die humanitäre Tradition unseres Landes, den Integrationsgedanken unseres Sozialsystems und die Gastfreundlichkeit des Schweizer als solcher, mit Füssen treten. Erst recht, wenn das einzige Lob von Gestalten wie Marine Le Pen, dem niederländischen Rechtspopulist Geert Wilders oder Florian Philippot, stellvertretender Vorsitzender der französischen rechtsextremistischen Partei Front Nationa  kommt: «Gut gemacht, Schweiz! Eine echte Demokratie!», schrieb er auf Twitter. NTM! Aber jammern nützt heute eh nix mehr, vielmehr stelle ich an all die Wähler die Frage, die "nur ein Zeichen setzen wollten", welches Zeichen sie denn nun genau gesetzt haben? Etwa dass ein kleines, reiches Land lieber erst einmal auf sich schaut, bevor es sich um den Rest der Welt kümmert? Oder wir uns halt gerne aussuchen, welche Ausländer und genehm sind und welche nicht? Aber wenn dann Lars Unnerstall im Tor des FC Aarau eine Glanzleistung zeigt, dann jubeln ihm alle zu - gut er hat ja nur einen Vertrag bis im Mai und geht dann wieder zurück nach Gelsenkirchen. Liebe ausländische Mitbewohner dieses Landes, macht doch einfach alle mal einen Tag frei, das wäre mal ein Zeichen. Die Schweizer Wirtschaft würde stillstehen!

Ich habe mir die Frage gestellt, wie das sehr knappe Resultat zustandegekommen ist. Okay, hätten alle die, die eben dieses Zeichen setzen wollen (und ich kenne da ein paar!) einfach so gestimmt, wie sie sonst immer stimmen, dann hätten die knapp 20'000 Stimmen nicht gereicht. Oder man hätte auch einfach das Tessin den Italienern schenken können, von da kamen sehr viele Ja-Stimmen. Aber den Braten so richtig feiss gemacht, haben auch die Ticinesi nicht. Also, wer war es? Dann vermutlich die Gegegenden der Schweiz, in welchen es die meisten Ausländer hat. Das wären dann also Genf, Baselstadt, Waadt, Zürich oder auch Zug... Oh, die haben ja alle NEIN gestimmt! Ganz im Gegensatz zu Kantonen wie Appenzell, Uri oder Obwalden, da liegt der Anteil Ausländer bei rund 10 Prozent und alle haben die MEI angenommen?




Und dann gab es ja noch das Argument, dass die vielen Ausländer in der Schweiz dafür sorgen, dass es hier zu eng wird. Sprich die Züge sind überfüllt und auf den Strassen gibt es Stau und für die Kriminaltität in den Städten sind die Ausländer auch verantwortlich. So würde es also naheliegen, dass die Städter alle Ja gesagt hätten: haben sie aber nicht. Im Aargau haben alle Städte die Initiative abgelehnt, ausser Laufenburg! Und dieser Trend zieht sich so ziemlich konstant durch die ganze Schweiz. Gestern oft genannt wurde auch der Kanton Luzern, lag wohl daran dass ich das Weekend in diesem schönen Zentralschweizer Kanton verbracht habe, eben: von konservativen Wählern war die Rede. Nun, das mag sein, aber siehe da:


Und ja, die Schweiz hat mit 23 Prozent einen, im Verhältnis hohen Ausländeranteil. Unser Land wächst durch Einwanderer jährlich um rund 80'000 Menschen. Die seit 2000 vergleichsweise hohe Zuwanderung wurde aber ausgelöst durch den Bedarf von Schweizer Firmen an Fachkräften, sprich, wir sind es ja, die diesen extrem hohen Lebensstandart wollen und dieser wurde nur möglich, durch ausländische Arbeitskräfte. Das Ergebnis von gestern steht darum in einem massiven Widerspruch zu unseren wirtschaftlichen Ansprüchen. Das hat aber scheinbar niemand kapiert! Den meisten Ja-Sagern waren nicht die Arbeitskräfte oder der tolle Torwart oder die nette Dame am Kiosk oder der lustige Goran aus dem Turnverein im Hinterkopf, sondern der "Jugo, der immer so durchs Quartier rast mit einem 3er BMW", "diese Schwarzen am Bahnhof, die mit Drogen dealen", "diese Iraker, welche unsere Frauen vergewaltigen" oder "diese aggressiven Nordafrikaner, welche ständig Schlägereien anzetteln". Dazu galt auch das Argument der Einbürgerung nicht mehr, "auch wenn einer eingebürgert ist, bleibt er ein Ausländer und darum beträgt der Ausländeranteil bei uns auch fast 50 Prozent", zitiere ich einen Politiker. Kurz, weil die Schweizer Justiz tatsächlich vorhandene Probleme, egal ob von Schweizern oder Ausländern produziert, nicht in den Griff kriegt, müssen nun rechtschaffende Ausländer darunter leiden? Vom Bild der Schweiz im Ausland, den anstehenden Problemen, der Schweizer Fussball-Nati oder anderen Folgen dieses Entscheids möchte ich an dieser Stelle erst gar nicht anfangen. Aber was mach ich mir überhaupt Gedanken? Die SVP-Vertreter betonen seit gestern in JEDEM Interview, dass sie mit der Umsetzung dieser Initiative nichts zu tun hätten, das wäre nun Sache des Bundesrates...

Habe fertig. Zum Schluss ein Ausschnitt aus einem Mailkontakt von heute Morgen zwischen der Schweiz und einer Berliner Radiostation, welche sich Sorgen um die (Zitat) "paranoide Schweiz" gemacht hat: "Gruss au der geteilten Schweiz: niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen, müssen wir ja auch nicht – die in den Köpfen sind seit gestern dick zementiert. Ich wünsche mir darum ein Lied bei euch, um der Welt zu sagen, nicht alle Schweizer sind gegen Ausländer und wir mögen euch. Rettet uns vor dem steten Kapitalismus und der Angst vor dem Fremden, spielt Musik für uns…"


Und ach ja, liebe Schweizer Sportfreunde, die ihr gestern Ja gestimmt hat und euch bei Olympia über die menschenverachtenden putinschen Gesetze gegen Homosexuelle aufregt und euch dann über die Goldmedaille des Zürcher Boardes Iuri Podladtschikow freut, so kurz nachdem ihr im Facebook noch Stanislas Wawrinka in den Tennishimmel gelobt habt... erst nachdenken und dann aufregen oder freuen!


Quellen: 
http://www.martingrandjean.ch/suisse-la-votation-sur-limmigration-en-un-graphique/
http://amade.ch/2014/02/dichtestress-fremdenhass/?fb_action_ids=10201381675249402&fb_action_types=og.likes
http://www.berliner-zeitung.de/home/10808950,10808950.html






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