Manchmal wirkt so ein Blog ja durchaus therapeutisch. So wie hier und jetzt. Eigentlich wollt ich ja nichts schreiben zum Sendeabbruch bei "Wetten dass..", aber irgendwie lässt mich die Sache nicht in Ruhe. Und eigentlich war es ja auch gar nicht geplant, dass ich die Sendung gestern Abend sehe - immerhin war Besuch angesagt, aber der ging dann früh nach Hause weil der Junge nicht fit war.. aber das würde jetzt zu weit führen. Nun gut, 20 Uhr 15 ZDF. Mit ein paar Minuten Verspätung hau ich mich vor die Flimmerkiste, das Blabla zur Eröffnung krieg ich noch nicht mit. Und auch GNTModel Sarah und Otto Waalkes finden noch ohne mich statt. Gerade rechtzeitig zur Erklärung der ersten Wette finde ich mich - ausgerüstet mit Weihnachtskeksen - vor dem Tivi ein. "Auch noch krass," denke ich so. "Wobei mit diesen Powerhüpfschuhen sollte das durchaus möglich sein, zudem wird der Junge sich ja was dabei gedacht haben, als er sich beim ZDF beworben hat," geht es mir durch den Kopf. Gottschalk und Michelle Hunziker machen zwar vor dem ersten Sprung übers den Smart noch einen auf "Uiiii, eine sehr gefährliche Wette!", aber Jackass & Co. sei dank ist man ja irgendwie abgestumpft und vertraut darauf, dass die Wette eh funktionieren wird.
Im grauen Audi sitzt dann der Papa von Kandidat Samuel Koch. Der hatte gestern sogar noch Geburtstag und mir gehts durch den Kopf "Wäre auch noch doof, wenn der Vater an einem Geburi seinen Sohn über den Haufen fahren würde...", schiebe mir dabei genüsslich ein Mailänderli in den Mund und trink nen grossen Schluck Ginger Ale. Während ich mich noch über das Gekreische der Justin Bieber Fans nerve, fährt der silbrige Audi an, gegenüber rennt Samuel Koch mit seinen Känguruh-Schuhen los. Die beiden Protagonisten treffen sich in der Mitte, ein leiser Knall, ein Schrei einer Frau... und der schwarz gekleidete Körper fällt wie ein Sack aus über 3 Meter Höhe auf den Hallenboden. Ungebremst, ohne dass sich Hände und Arme gegen den Aufprall gewehrt hätten. Dann liegt der junge Mann da, regungslos. Kein Zucken, kein Schmerzschrei.. gar nichts. Gespenstische Ruhe. Als erste ruft Michelle Hunziker nach einem Arzt, Gottschalk fragt ob sich der Kandidat weh getan habe... erkennt dann aber die Lage und ruft ebenfalls nach Helfern. Die Kamera schwenkt auf das Model Sarah, welcher der Schock ins Gesicht geschrieben ist. In der ersten Reihe des Publikums sitzt ein Mann im Rollstuhl, er hält seine Hand vors Gesicht und schüttelt ungläubig den Kopf. Neben ihm ein Mädchen, welches ihr Gesicht hinter ihrer Mutter versteckt.
Die Kamera geht noch einmal kurz zur Gottschalk und Michelle, vor der Linse rennen Rettungssanitäter durch, bevor sie dann eine Totale des Saalpublikums einfängt. Dann wieder diese Stille. Man hört Gottschalk im Off reden. Mein Weihnachtskeks ist mir längst im Hals stecken geblieben. Ich sitze vor dem TV-Gerät und friere. Bei Twitter herrscht kurzzeitig ebenfalls Flaute, es scheint als wären alle Wetten dass-Zuschauer für einen Moment in eine Starre verfallen. "Beweg dich endlich," sage ich zu mir. So wie in allen TV-Shows, in denen es immer ein Happy End gibt. Meist passiert ja nicht wirklich viel. Auch bei "Wetten dass.." gab es in all den Jahren nur mal einen Beinbruch und sonst lediglich Schrammen. Doch Samuel Koch bewegt sich nicht, Gottschalk tritt vor die Kamera und die Sendung wird unterbrochen. Es folgen Songs von Dieter Bohlen ("You can win the Race", wie unpassend) oder Black Eyed Peas ("... tonite's gonna be a good Night"). Dazu ein Insert, dass es bald weitergehe. 45 Minuten später immer noch Musik, irgendwann taucht Gottschalk - sichtlich mitgenommen - auf und erklärt, dass die Sendung abgebrochen werde. Es gehe Samuel Koch den Umständen entsprechend, er sei bei Bewusstsein und auf dem Weg in die Uni-Klinik Düsseldorf. Mehr News gäbe es um 22 Uhr 45 beim Heute Journal.
Tja, Medien im Jahre 2010. Während die Bildzeitung den Unfall schon nach den ersten Minuten bis ins makabere Detail ausschlachtet, hält sich das ZDF zurück. Keine Spekulationen, auch in den News heisst es lediglich, dass keine News gehe. Die Eltern seien bei Samuel in der Klinik, später dann war von einer Operation die Rede und dass es weitere Infos erst heute im Laufe des Tages geben werde. In meinen Augen sehen gute Neuigkeiten anders aus... aber immerhin, das ZDF hat souverän reagiert und aus dem tragischen Unfall keinen Profit geschlagen. Im Internet gingen dann die Diskussionen natürlich erst recht los: da waren die pubertären Justin Bieber-Fans, welche dem Kandidaten (kein Witz!) den Tod wünschten, weil er schuld sei, dass das US-Pickelgesicht nun nicht auftreten kann. So nebenbei, es wären auch noch Superstars wie Take That, Cameron Diaz, Phil Collins oder Cher am Start gewesen - bloss wären deren Fans wo nie im Leben auf die Idee zu kommen, einen "Schuldigen" zu suchen für den Abbruch der Sendung. Wenn diese Rotzgören die soziale Zukunft unseres Landes ist, Gute Nacht Freunde. Meine Rente dürfte eher unsicher sein "selber schuld wenn du alt wird, Knacker!" Dann gab es natürlich die Moralisten, welche darauf hinwiesen, dass das ZDF solche Wetten nie hätte zulassen dürfen. Es sei unverantwortlich und Ziele nur auf die Quote, wenn man solche Sachen zeige. Dass gleichzeitig bei RTL eine Frau mit ihren Titten Weisswürste platt machte oder sich auf ORF Frauen auf Skis einen Abfahrtshang herunterstürzen spielt für diese Menschen wohl keine Rolle. Ich bin der Meinung, dass der Kandidat ja wusste, auf welches Risiko er sich einlässt und das auch bewusst getan hat. Ansonsten müsste man ab sofort alle Risikosportarten verbieten!
Genau diese Moralisten haben sich dann übrigens auch schnell einmal aufgeregt, dass die Boulevardmedien - die Bild-Zeitung gehört perfiderweise zum "Springer"-Verlag und hat uns verraten, dass der behandelnde Artz Dr. Schädel heisst - im Detail über den Unfall berichtet haben. Hey, es sind BOULEVARD-Medien, niemand wird gezwungen diese Schundblätter zu lesen. Ebenso muss man das Video vom Crash nicht auf Youtube anschauen, wenn man das nicht will. Weiter gab zu diskutieren, dass bei Twitter der Hastag für die Sendung "wettendas lautete, ohne ein zweites S bei dass. Natürlich wurden ohne Unterbruch Informationen gefordert, ungeachtet, dass vielleicht die Familie gar keine Informationen geben möchte. Obwohl der Kandidat bei einer TV-Show mitgemacht und verunglückt ist, heisst das noch lange nicht, dass er deswegen öffentliches Gut ist. Auf einmal kam dann ein Zeitungsbericht in Umlauf, in welchem Simon Koch - vor der Sendung - ein Interview gab. Da kam es zu Aussage, dass es ihn bei den Proben auch schon aufs Maul gehauen hat, mehrfach und scheinbar auch schwerer. Im Gegensatz dazu hiess es beim ZDF eher, es habe bei den Proben immer gut ausgesehen. Schliesslich wurde der ZDF Intendant zitiert, dass der Unfall genau untersucht werden müsse.
All diese Bemühungen helfen dem jungen Mann derzeit auch nichts mehr. Über seinen Gesundheitszustand kann nur spekuliert werden, ein Gefühl nach dem Studium aller Aussagen, Berichte und Reaktionen sagt mir allerings, dass es nicht so gut aussehen könnte. Nicht dass ich das hoffe, klar nicht! Aber eine Entwarnung von Seiten des ZDF hätte anders ausgesehen und auch die letzte Aussage von Gottschalk war nicht unbedingt euphorisch. Trotzdem, man muss dem ZDF lassen, dass es vernünftig reagiert hat. Keine Kameras auf das Opfer, keine billigen Interviews mit Beteiligten, keine dramatischen Geschichten oder Interviews... einfach nüchtern und sachlich. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie der gleiche Zwischenfall bei RTL abgefeiert worden wäre.
Für mich ist am Schluss jedoch eines klar. es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendeinmal so etwas passieren musste. Höher, weiter und schneller ist auch bei den Medien das Thema. Alle Sender brauchen Quote, da nimmt man seit Jahren so einiges in Kauf, bislang ging immer alles gut. Aber einmal - das lernern wir im Sport - endet jede Serie. Egal ob Silbereisen bei der ARD, Pocher bei Sat1, Raab bei Pro7, Gottschalk beim ZDF... überall wird riskiert und gepokert. Zu hoffen, dass dieser Unfall geschmacklose Sendungen vom TV verbannt ist naiv. Klar, eventuell könnte er das Aus für Gottschalk und/oder "Wetten dass.." bedeuten, aber es kommen andere Formate. Schliesslich werden ja auch minderbemittelte Bauern öffentlich hingerichtet, während sie ihre grosse Liebe suchen... und so weiter. Aber die Geilheit auf Sensationen ist in der heutigen Medienwelt soweit entwickelt, als dass wir auch dieses TV-Drama verkraften werden... Oder wie hiess es im Film "La Haine" so passend:
"Jusqu'ici tout va bien, jusqu'ici tout va bien, jusqu'ici tout va bien...
mais l'important c'est pas la chute. c'est l'atterrissage!"
6 Kommentare:
Hey Reto :)
Ich bin eigentlich kein typ der Kommentare schreibt. Kp warum. Aber hier finde ich es angebracht.
Ich finde es immer wieder super wie du schreibst. Deine Sicht ist meist richtig. Ich erwische mich sehr oft wie ich deine tweets lese und zustimmend nicke. Das machte ich auch bei diesem Artikel!
Zum Thema Samuel an sich mochte ich nichts schreiben. Du hast alles in deinem Artikel stehen wie ich es auch denke und sehe!
Mach weiter so
Lg
Pascal
Interessant fand ich auch, wie Gottschalk sich selbst beim Abbruch der Sendung und dem Interview mit dem "heute journal" wiederholt als "Entertainer" bezeichnete. Es ist Spekulation, aber war das vielleicht auch Selbstschutz und der Hinweis an das Publikum: "Ich bin kein Journalist. Ich bin nicht dazu geschaffen, hier von einem solchen Ereignis zu berichten."
Auch das fände ich nämlich sehr vernünftig von ihm und konsequent zur Entscheidung, nicht drauf zu halten.
Ich stimmt dir fast überall zu. Bis auf den Absatz mit den Beliebers. Ich hab es die letzten Tage aktiv verfolgt, bei keinem anderen Star gab es Wochen vorher soviele Tweets dazu.
Die allermeisten waren enttäuscht, klar, das kann man sein, aber #pray4samuel war weltweit in den Trending-Topics bei Twitter. Der Auslöser dafür war wohl @justinbieber selber. Er hatte geschrieben lasst uns für ihn beten.
Dass nun einzele Fans ausfällig werden ist immer möglich, aber dass dem Kandidat den Tod gewunschen wurde. Kannst du da mal den Tweet nennen?
Sehr gute Analyse des Geschehens, wobei ich sagen muss, auch die Boulevardpresse hat einen gewissen Entscheidungsspielraum, wie vernünftig sie informiert.
Finde Deine Überlegungen sehr gut und treffend. Die Betroffenheit kann auch für scheinbar Unbeteiligte sehr gross sein, wenn man die Sache nahe genug verfolgt. Ging mir damals beim Unfall mit dem Basejumper am Sunrise Tower ähnlich.
Wir sind uns gewohnt, die brutalsten Bilder zu konsumieren, ohne dass es je Konsequenzen hat. Diesmal spühlte es ins "echte" Leben.
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