Schon einmal was vom Buch "Shades of Grey" gehört? Mir ist dieser Titel in den letzten Tagen gleich mehrfach über den Weg gelaufen. Egal ob im Radio, der Zeitung oder im TV. In der Flimmerkiste gab es zum Beispiel bei RTL Extra am Montagabend einen ausführlichen Bericht darüber. Interviewt wurde unter anderem die Sexpertin Vanessa del Rae aus Deutschland, aber auch die Schweizerin Nana Thürler, welche ich über Facebook kenne. Und was bitte hat nun dieses Buch damit zu tun? Der SM-Roman "Shades of Grey" ist in den USA, Kanada und Grossbritannien DER Sensationserfolg des Jahres, machte Autorin E.L. James bereits zur Millionärin. Harry Potter und die Vampir-Geschichten lassen grüssen... Jetzt ist der Roman auf Deutsch erschienen.
Zum Inhalt: Die 21-jährige Jungfrau Anastasia trifft den Milliardär Christian Grey, der an ihr seine sadistischen Neigungen auslebt. Anastasia spielt mit, lässt sich sexuell versklaven, probiert alles aus, wird gefesselt, geschlagen, erniedrigt.
Tja und eben, dieses Buch ist der Bestseller des Jahres. Laut Umfragen kaufen zudem mehr Frauen als Männer den Schinken. Moderne Welt, oder?
Nun, Sex ist so alt wie die Menschheit und die Grundvoraussetzung für unser Bestehen. Dennoch hat die Sexualität in den letzten Jahrzehnten einen Wandel durchlebt.War Sex in den 50er-Jahren offiziell nur mit Trauring erlaubt, so sorgten die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle ab 1968 für eine befreiende Veränderung. Plötzlich wurde über das Liebesspiel gesprochen – wenn auch noch hinter vorgehaltener Hand. Eine heute berühmte Aussage einer seiner Kritiker war: "Herr Kolle, Sie
wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die
Frau oben liegen!". Und als 1961 die Pille eingeführt wurde, waren Frauen auf einmal von der Angst vor ungewollten Schwangerschaften befreit.
Doch auch Beate Uhse hat aus Sex ein für beide Geschlechter offenes Thema gemacht. "Außereheliche Gemeinschaften waren vor 60 Jahren noch strafbar", sagt Sex-Coach Vanessa del Rae in der BILD-Zeitung. In ihrer Berliner Praxis für Sinnlichkeit und Sexualität spricht sie mit Paaren und Einzelpersonen über Liebe, Lust und Zärtlichkeit. Beate Uhse hat sich für die Rechte der Frauen eingesetzt, indem sie 1962 in Flensburg ein sogenanntes "Fachgeschäft für Ehehygiene" eröffnete. Es gilt als der erste Sex-Shop der Welt.
Zurück zum Buch, sorry, Bestseller. SM, die neue Mode? "Sadomasochistische Praktiken wurden bereits Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. grafisch dargestellt", sagt die Frau ausm RTL, Vanessa del Rae. Auch im Kamasutra – zwischen 200 und 300 nach Christus geschrieben – werden alle Arten lusterfüllter Schmerzenslaute beschrieben. Rollenspiele, SadoMaso, Fetischismus, Swingerclubs, Cybersex: Erlaubt ist, was gefällt. Unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten damit einverstanden sind.
Eine aktuelle Studie belegt, dass heute 93 Prozent der Frauen offen für sexuelle Experimente sind. Auf den vordersten Plätzen der Fantasien finden sich Geschichten wie, Flotter Dreier, Sex mit 2 oder mehr Männern, Sex mit einem Unbekannten, vom Mann dominiert oder gefesselt ausgeliefert zu sein. Und, man lese und staune, Gewaltfantasien... Ist der Erfolg von "Shades of Grey" also gar kein Zufall? Einen entscheidenden Beitrag zu diesem ungehemmten Umgang mit Sexualität leisten scheinbar die Medien: "Der weitgehend freie Zugang zu pornografischen Filmen und Büchern, in denen Sex facettenreich dargestellt wird, trägt dazu bei, Bedürfnisse zu wecken und die Fantasie anzuregen. Das kann belebend für eine Partnerschaft sein oder Mut machen, Neues zu probieren", sagt Sex-Coach del Rae gegenüber BILD und dem RTL.
Aber es sorgt auch für das sexuelle Gefühl einer ganzen Generation: Oversexed, but underfucked!
Überall werden wir mit dem Thema Sex konfrontiert und zugemüllt. Dadurch wächst der Druck von aussen wievon innen, regelmässig Sex haben zu MÜSSEN und vermeintlichen Standards (vier Mal die Woche Sex ist angeblich normal) zu entsprechen.
Und simple bzw plumpe Pornografie manifestiert dieses Gefühl dann noch: In wenigen Sekunden kann man übers Netz Sex konsumieren – aber nicht haben. Doch ihre jederzeit freie Verfügbarkeit macht Sexualität zu einem scheinbar ungezwungenen Thema des Alltags. Nie haben die Menschen offener darüber gesprochen.
Von Analsex bis Zungenspiele – Tabuthemen gibt es kaum noch. Zumindest in lockerer Runde, nach ein paar Glas Wein. Aber die Doppelmoral bleibt weiterhin bestehen, man gibt nur soviel Preis, als dass man dann vom Gegenüber seine Geheimnisse erfährt. Um danach hinter hervorgehaltener Hand darüber zu lästern. Aber eben, vielleicht gibt es ja genau darum solche Bücher, wie der Bestseller von E.L. James. Ich frage mich bloss, ob das letzte Tabu alsbald auch gebrochen wird: In einer Welt, in der Jugendlichkeit und Unsterblichkeit die grössten Wünsche der Menschheit zu sein scheinen, wird mit sexuellen Bedürfnisse der älteren Generationen gefremdelt. Sex im Alter ist das letzte erotische Tabu.Warum nur? Weil wir uns selber nicht mit dem Alter befassen wollen und darum dieses Thema getrost ausblenden.
Quelle: RTL und Bild