Je mehr ich über die Gewaltnacht in der Türkei lese, umso mehr zweifle ich am Ausdruck Putschversuch und sehe alles vielmehr als eine grosse Show von Erdogan. Eine Show, die leider über 250 Menschenleben gefordert hat.
Die Putschisten haben sich über den ganzen Abend äusserst dilettantisch verhalten. Ein "Rat für den Frieden im Land" habe die Macht übernommen, hiess es zu Beginn. Mit einer Handvoll Panzern und ein paar Flugzeugen. Diese bombardierten zwar den Präsidentenpalast, jedoch ohne grössere Schäden anzurichten und im Wissen, dass Erdogan gar nicht da ist. Dieser fliegt während der ganzen Kiste seelenruhig mir seinem Privatjet übers Land (siehe Flightradar24-Screenshot), die Rebellen waren zwar angeblich im Besitz der gesamten Luftwaffe, trotzdem kam niemand auf die Idee die Präsidentenmaschine abzuschiessen oder zumindest zur Landung zu zwingen. Nein, im Gegenteil: Zum Schluss konnte Erdogan sogar seelenruhig auf dem Flughafen Atatürk in Istanbul landen, sich seinen jubelnden Anhängern zeigen und ein Bad in der Menge nehmen. An dem Ort, wo kurz zuvor noch F16 knapp über dem Boden für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung gesorgt hatten und die, angeblich meuternde, Armee mit Schüssen ihre Präsenz markiert hatte. Kaum war Erdogan da, alles ruhig und der Spuk beendet - so als hätte jemand einen Knopf gedrückt.
Angefangen hatte der "Putsch" mit der medienwirksamen Besetzung zweier Brücken in Istanbul durch das Militär. Wozu? Man weiss es nicht. Danach hat man den staatlichen TV Sender TRT in Beschlag genommen, die restlichen Sender liefen aber meist ungehindert weiter. Und genau auf einem dieser Sender (CNN Türk) tauchte dann auf einmal Erdogan auf und gab ein Interview über Facetime, gleichzeitig informierten hohe Regierungsmitglieder das Volk über die sozialen Medien über das weitere Vorgehen und forderten sie zum Protest gegen die Putschisten auf - mit Erfolg. Über Facebook, Twiter und auf der Strasse zeigten Tausende ihre Solidarität mit dem Erdogan-Regime! A propos Medien: Das Internet wurde letzte Nacht weder vom Team Erdogan, noch von den Revoluzzern abgestellt, Radiostationen (sonst ein sehr beliebtes Ziel bei einem Putsch!) durften weiter senden, es gab gerade mal ein Statement der Aufständischen und das rein zufällig über den Staatssender. Witzigerweise erst nachdem Erdogan bekanntgegeben hatte, dass ein Putsch gegen ihn im Gang sei und er diesen niederschlagen würde... Dieses Statement der Putschisten wurde dann in TV nur von einer Moderatorin verlesen, war sehr schwammig und ohne eine Kernaussage. Weitere Aufälligkeit, Facebook war quasi immer online und auf der Seite von Erdogan, bei Twitter sah es etwas anders aus, da gab es vereinzelte kritische Stimmen. Aber auf beiden Kanälen null Aktivitäten der Putschisten. Kurz, in Sachen Medien konnte Erdogan - während einem Putsch GEGEN ihn - voll und ganz punkten. Kommt dazu, bei allen Auftritten Erdogans wirkte dieser wirkt extrem ruhig und nicht so wie einer, der gerade seine ganze Macht verloren hat.
Zurück blieben am Schluss verstörte, junge Soldaten, welche nicht wussten, wie ihnen geschah. Denn von der Armeespitze war komischerweise ja niemand am Putsch beteiligt, es waren nur "Bauernopfer" im Einsatz, welche als Statisten den Befehlen folgten. Kein Wunder schwenkten die Soldaten auf einmal auch Türkei- und Erdoganflaggen und gaben teilweise ihre Waffen freiwillig ab. Ihnen hatte man wohl einen anderen Auftrag gegeben, als den, welchen wir nun glauben sollen. Reden darüber können sie nicht, fast 2000 junge Soldaten wurden verhaftet und werden so schnell nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangen.
Und der Westen? Die EU und die USS begrüssen die Rückkehr zur Normalität, verweisen darauf, dass die Regierung verfassungsmässig gewählt sei und stellen sich so noch hinter Erdogan. Mal ehrlich, was gibt es besseres für einen Staatspräsidenten (der ja laut der Verfassung eigentlich nur repräsentativen Aufgaben hat!), als einen solch dilettantischen Sturzversuch der Armee, welcher der ach so tapfere und mutige Präsident quasi im Alleingang entschlossen niedergeschlagen hat und nun darum genügend Argumente hat, die ganze Macht auf sich allein zu vereinen, damit er sein Volk künftig noch besser beschützen kann und so etwas nicht wieder passieren kann... Ein Witz und die Dummen fallen darauf rein. Man braucht keinen Aluhut zu tragen oder Verschwörungstheoretiker zu sein, um zu merken, dass das ganze Schauspiel eine Farce war. Bleibt bloss zu hoffen, dass ein westlicher Politiker mutig genug ist zu sagen was Sache ist. Denn immerhin hat diese gespenstische Inszenierung viele Opfer zu beklagen. Die traurige Bilanz der Nacht: 265 Tote. Bei 161 der Toten handelt es sich angeblich um regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten. Dazu 104 getötete Putschisten und knapp 3000 festgenommene Soldaten im ganzen Land. Aber auch diese Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen, wie derzeit alle Infos aus der Türkei.