Mag sein, dass private Gründe mitspielen, dass ich derzeit sensibler auf gewisse Nachrichten reagiere als sonst. Aber es kann auch sein, dass die Welt ganz einfach langsam aber sicher durchdreht. Man weiss gar nicht, wo man anfangen soll... aber ganz auf die News verzichten geht irgendwie auch nicht. Es muss rein, aber irgendwie dann halt auch mal wieder raus. Darum der Blog. Dampf ablassen.
Das grässliche Massaker in den USA, der Mord gestern in Frankreich und die Androhung des Täters, dass diese EM "zu einem Friedhof" werde. Es fehlen einem die Worte. Was macht die Politik? Sie nutzt solche Anlässe noch zur Propaganda, Trump und LePen lassen grüssen. Man hetzt nicht nur gegen den Islam, nein, man poltert auch gleich noch über die Homosexuellen und macht zünftig Wahlkampf mit den Opfern. Ich bin traurig.
Und diese EM. So richtig hat mich das Fieber noch nicht gepackt, gebe ich zu. Zu heftig die Unruhen überall, vor allem in Marseille. Und auch hier: die UEFA völlig machtlos!
Hat jemand das "GoPro"-Video vom russischen Hooligan gesehen? Nimmt der Arsch doch tatsächlich auf, wie er auf Engländer und Franzosen losgeht. Zum Kotzen! Und ganz ehrlich, wenn ich diese Bilder sehe kommen mir fast die Tränen. Ironie des Schicksals ist noch, dass die Strasse "Rue de la Paix" heisst... im vietnamesischen Restaurant Le Ginseng habe ich vor 2 Jahren noch zu Abend gegessen. Es ist zerstört. Im Polikarpov noch einen Absacker genommen. Es musste schliessen. Im Table à Deniz gab es leckere, marktfrische Küche. Scheiben und Interieur kaputt. Im Café Vieux Port noch leckere Oliven gegessen und Pastis getrunken. Ein verletzter Kellner, alle Scheiben kaputt, sämtliche Gartenstühle weg. Und schliesslich das Café OM, fein zu Mittag gegessen, frischer Fang aus dem Mittelmeer. Laut Twitter ist nicht mehr viel davon übrig. Ich bin traurig.
Und warum? Nur weil irgendwelche feigen Idioten (und ich rede nicht von Ultras sondern von Hooligans) noch ihre Schwänze vergleichen wollen. Bei der nächsten WM in Russland trauen sie sich dann nicht, die übernächste EM hat keinen zentralen Spielort mehr und bei der übernächsten WM in Katar haben diese rechten Schläger auch schlechte Karten. Rechten? Oh ja. Wer in Marseille (!) einmarschiert und gleich als erstes Muslime beleidigt ("Where is the IS?") oder in Frankreich mit einer Reichskriegsflagge auftaucht,ist entweder grenzdebil oder schlicht und einfach ein braunes Arschloch. Punkt.
Da helfen einem dann gewisse kurze Momente, die dir zeigen, dass die Welt noch irgendwie in Ordnung ist. Zum Beispiel, dass sich gleich ein paar Gruppen von Asylbewerbern für den Aarauer Altstadtlauf angemeldet haben und sie sich bereits mächtig auf ihren grossen Tag freuen. Oder, heute habe ich Abdulwasi getroffen, er ist ein Flüchtling und kommt aus Äthiopien, ohne Eltern in der Schweiz gestrandet und hier entsprechend ziemlich einsam. Derzeit begeht er gerade den Ramadan und trotzdem will er nicht den ganzen Tag nur auf der faulen Haut liegen. Innert kürzester Zeit hat er darum (sehr gut) Deutsch gelernt, ist regelmässiger Gast im Rolling Rock und ist da als talentierter Skateboarder aufgefallen. Dank dem Netzwerk Asyl bin ich seit heute so etwas wie ein Götti für ihn, wir haben Nummern getauscht und werden in nächster Zeit auch ein paar Sachen zusammen unternehmen. Als er erfahren hat, dass ich nächste Woche zügle, hat er mir spontan seine Hilfe angeboten - er hätte ja Zeit. Und auch bei den Themen Fussball und Musik wurd er gleich hellhörig. Sein Lächeln in dem Moment: unbezahlbar! Zum Schluss unseres "begleiteten Kennenlernens" habe ich ihm noch ein Skateboard mitgegeben, mit welchem er auch ausserhalb vom Rolling Rock üben und sich verbessern kann.
Was ich damit sagen will, die Welt ist krank. Der Islam böse, alles Fremde böse, alles was extrem ist wird gedultet, die Unzufriedenheit und die Unsicherheit der Menschen ist grösser denn je, Hass ist die neue Liebe, Intoleranz das neue Verständnis. Das macht mir Angst, aber es sind die kleinen Dinge im Leben, die mir den Mut geben, dass alles irgendwie gut kommt. Und Trump nicht gewählt wird oder wir wieder begreifen, dass es nicht allen Menschen auf dieser Kugel gut geht, und wir mit unserem verdammten Wohlstand dazu beitragen können, dass es wenigstens ein paar Menschen besser geht. Und sei es nur, in dem wir uns vor oder nach einem Fussballspiel (nach Schweiz Albanien gab es in Aarau auch ein paar halbstarke Deppen!) nicht auf die Rübe geben oder akzeptieren, dass gewisse Mitbürger jetzt gerade den Ramadan begehen oder auf dumme Blicke verzichten, wenn sich zwei Männer küssen oder den Mund aufmachen, wenn jemand Unrecht geschieht. Ja, es wäre so einfach.
In diesem Sinne, schönen Dienstagabend und allez les Bleus.