21. Februar 2014

Киев is calling #EuroMaidan

Heut, es ist kurz vor Mitternacht, war ein komischer Tag. Irgendwie sind derzeit immer alle Tage irgendwie komisch, aber das wäre ein anderes Thema, welches an dieser Stelle nicht Thema sein soll. Es reicht schon, dass in der ukrainischen Hauptstadt zur Stunde gezielt Menschen durch Scharfschützen erschossen werden und die Welt schaut, einmal mehr, einfach nur zu. Klar sind Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius derzeit in der Ukraine zu Besuch und auch die EU berät in Brüssel über Sanktionen. Aber mal ehrlich? Sanktionen, wozu und welche? Die Ukraine hat mit Russland einen starken Partner im Rücken, da ist man gar nicht auf Europa angewiesen. Die Schweiz könnte Konten sperren, aber die Gelder sind in meinen Augen eh schon lange nicht mehr auf unseren, sondern auf russischen Banken. A propos Schweiz, warum hört man von unserer Regierung nichts zu dem Thema? Klar, die Schweiz ist neutral. Trotzdem dürfte man an die Adresse von Diktator Wiktor Janukowytsch mal erwähnen, dass das, was er da gerade abzieht, so gar nicht geht. 


Aber kommen wir zum Hauptpunkt von diesem Blogpost: ich hatte heute die Möglichkeit, "mit Kiew zu skypen". Namen darf ich an dieser Stelle keine nennen, die Angst in der Stadt vor Repressionen ist zu gross. Darum nennen wir die Frau aus Kiew an dieser Stelle einfach mal Julia, sie ist 23 Jahre jung und arbeitet in der Modebranche. Derzeit kümmert sich Julia um ihren Job allerdings eher weniger, sie ist, zusammen mit ihren drei WG-Freunden, auf den Strassen der ukrainischen Hauptstadt unterwegs. Auf meine Frage, ob sie denn auch auf dem Maidan-Platz sei, sagt sie: "Ja, ich war auch schon da. Mehrmals sogar. Aber aktuell ist es kein Platz für Frauen, die Männer sind da und markieren Präsenz. Wir halten uns im Hintergrund und versorgen Verletzte." Die medizinischen Zustände seien katastrophal, erzählt Julia weiter. Es fehle vor allem am Material. Notdürftig wurde so heute eine Hotellobby zu einem Notfallspital umfunktioniert. Alle würden sich gegenseitig helfen, aber gegen die Waffen der Polizei hätten die Protestierenden fast keine Chance. Steine, Holzstöcke und ähnliche Sachen würden eingesetzt. Ich frage weiter, welches Ziel sie denn verfolgen würden: "Freiheit! Wir wollen einfach Freiheit, wir haben keine Lust mehr wie Sklaven behandelt zu werden!" Uns im Westen sei das vielleicht gar nicht so bewusst, wie stark der Einfluss von Russland auf die Ukraine sei und welche Macht Präsident Janukowytsch inne hält. Ja, stimmt: ertappt. Was wissen wir von der Ukraine? Fussball EM war mal da, mit Schewtschenko. Frau Timoschenko wurde verhaftet. Berühmte Boxer kommen aus der Ukraine. Die Halbinsel Krim und deren Sekt. Und dann noch einmal Fussball mit Schachtar Donjezk und Dynamo Kiew, diese mussten ihr Euro League Heimspiel von heute Abend bekanntlich auf Zypern spielen Und, nicht ganz unwichtig, durch die Ukraine gehen wichtige Pipelines, welche Gas nach Osteuropa liefern. 


"Wenn es dunkel wird, sollte man die Wohnung derzeit nicht mehr verlassen, das ist zu gefährlich. Du weisst nicht, wem du trauen kannst auf der Strasse. Die Männer von der Spezialeinheit Berkut sind überall und sie gehen nicht zimperlich mit dir um. Erst recht nicht, wenn du eine Frau bist," erzählt Julia vom Leben in Kiew. Schwierig sei auch das Einkaufen. Es gäbe lange Schlangen in den Ladengeschäften, viele Produkte seien gar nicht mehr erhältlich. Als "Beleg" dieser Aussage, schickt sie mir Fotos. Und führt dann aus: "Ein paar Freunde von mir sind losgefahren Richtung Polen, mit ihrem Auto. Aber sie konnten nicht mehr als 100 Liter Benzin besorgen, denn Benzin wird hier derzeit nicht mehr wirklich verkauft. Die U-Bahn fährt auch nur noch selten. Ich drücke meinen Freunden die Daumen, dass sie es schaffen!" Die Grenzen zu Polen sind derzeit, laut diversen Medien, blockiert. Eine Ein- und Ausreise scheinbar unmöglich. Zu einem offiziellen Visa kommt man laut Julia aktuell in der Ukraine auch nicht, denn die meisten Botschaften haben ihre Tore geschlossen, lassen nur noch Landsleute rein und die ukrainischen Behörden arbeiten derzeit auch nur noch mit halber Kraft. Geschweige denn, dass sie Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen würden, das Land zu verlassen. 
Mir drängt sich die Frage auf, in wen oder was man denn in dieser Situation eigentlich noch seine Hoffnung legt... "Gute Frage, wir hoffen halt einfach, das Land ist gespalten. Der Westen hat genug, im Osten des Landes ist es eher ruhig, da gibt es keine Demonstrationen" sagt die 23jährige. Was ist denn mit Vitali Klitschko, der bei uns in den Medien Tag für Tag auftaucht? "He is a bastard!", sagt Julia über Skype. Er sei einfach gerne im Mittelpunkt, aber viel mehr wäre da nicht. Er hätte in der Ukraine auch nicht so viel Macht, wie man im Westen vielleicht vermuten würde. Ähnlich denkt sie über Obama, er sei ein Waschlappen, seine Frau, die hätte da die Hosen an.   Schliesslich bringe ich auch noch Putin ins Spiel, der sei bis Ende der Woche noch mit Sotchi beschäftigt, danach habe sie Angst vor ihm und seinem Einfluss. "Petro Poroschenko wäre ein guter Mann für die Ukraine," fügt Julia hinzu. Er sei ein Schokoladenproduzent, so einer wie in der Schweiz und er besitzt zudem einen liberalen TV-Sender. Dazu ist er ein enger Vertrauter von Wiktor Juschtschenko, dem ehemaligen Präsidenten - der vom Geheimdienst mit Dioxin vergiftet wurde. Er wäre einer, aber dazu bräuchte es erst Neuwahlen und diese müssten dann auch noch fair verlaufen. All das sei aber in ganz weiter Ferne, sagt Julia ziemlich resigniert. 
Und nun, wie weiter? Sie hätte eigentlich nichts zu verlieren, erzählt sie. Eine Familie haben sie eh nicht mehr und vielen "Freunden" könne man auch nicht mehr vertrauen. Darum geht sie Tag für Tag auf die Strasse, erst einkaufen bei Tageslicht und am Abend kümmert sie sich um die verwundeten Demonstranten. Auf meine abschliessende Frage, was wir denn hier, in unserem sicheren Land Schweiz, tun könnten für die Menschen in der Ukraine sagt sie bescheiden: "Redet über uns, macht die Demonstrationen und die Menschenrechtsverletzungen, das Morden und die unbändige Macht des Regimes zum Thema. Und falls politisch Verfolgte bei euch Zuflucht suchen, dann nehmt sie auf." Und dann hat es Julia auf einmal sehr eilig, ihre WG-Kumpels fuchteln mit einem Handy herum. Sie kriegt einen Anruf, ich verstehe ausser "Schwizari" kein Wort. Julia legt auf und sagt, dass ausnahmsweise das Handynetz nicht überlastet wäre und sie nun "ins Zentrum" gehen müsse. Sie werde da gebraucht. "Sprecht darüber, dass bei uns Menschen auf offener Strasse hingerichtet werden und wir nicht einmal mehr genug Verbandsmaterial haben, um die Verletzten zu versorgen. Aber wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter!" 


Sie schickt mir noch einen Link, auf welchem ich einen liberal eingestellten TV-Sender mitverfolgen kann, mit Livestream vom Maidan. Ich verabschiede mich mit einem "Hey take care!", sie antwortet mit "Alles wird gut!" und ist weg.








10. Februar 2014

"Das Boot ist voll!"

Erinnert sich noch jemand an den Film von Markus Imhof aus dem Jahr 1980? Die Handlung ist schnell erzählt: Sechs Personen ist 1942, während des Zweiten Weltkriegs, die Flucht in die (damals noch) neutrale Schweiz gelungen, doch eben diese Schweiz beschliesst im August des Jahres eine Verschärfung ihrer Aufnahmebedingungen. Die sechs Flüchtlinge versuchen, auch mit  Komplizenschaft einiger freundlicher Schweizer, durch Kleider-, Rollen- und Papiertausch die gestellten Bedingungen zu erfüllen. Doch der aufmerksame, eidgenössiche Dorfpolizist durchschaut das Spiel, fühlt sich hintergangen und ordnet das offizielle Verfahren an. Das Ende der Geschichte: die auf Grund rassistischer Motive Verfolgten müssen das Land verlassen, die "politisch Verfolgten" dürfen bleiben.


Es macht jetzt keinen Sinn, irgendeinen Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und dem gestrigen Abstimmungssonntag herzustellen. 50,3 Prozent würden diesen vielleicht ja eh nicht verstehen. Fakt ist aber, ich habe mich heute Montagmorgen ziemlich intensiv mit den ausländischen Medien auseinandergesetzt: England, Frankreich und vor allem Deutschland. Von Paranoia ist da die Rede, ein Titel lautet: "Die Rassismus-Chronologie: So fremdenfeindlich ist die Schweiz" oder "Die Schweiz sagt ‹Fuck the EU". Die Liste liesse sich endlos weiterführen, bringt aber nix, da die Entscheidung ja gestern gefallen ist und so die Demokratie funktioniert. Dennoch ist es mir peinlich, in einen Topf mit denen geworfen zu werden, welche die humanitäre Tradition unseres Landes, den Integrationsgedanken unseres Sozialsystems und die Gastfreundlichkeit des Schweizer als solcher, mit Füssen treten. Erst recht, wenn das einzige Lob von Gestalten wie Marine Le Pen, dem niederländischen Rechtspopulist Geert Wilders oder Florian Philippot, stellvertretender Vorsitzender der französischen rechtsextremistischen Partei Front Nationa  kommt: «Gut gemacht, Schweiz! Eine echte Demokratie!», schrieb er auf Twitter. NTM! Aber jammern nützt heute eh nix mehr, vielmehr stelle ich an all die Wähler die Frage, die "nur ein Zeichen setzen wollten", welches Zeichen sie denn nun genau gesetzt haben? Etwa dass ein kleines, reiches Land lieber erst einmal auf sich schaut, bevor es sich um den Rest der Welt kümmert? Oder wir uns halt gerne aussuchen, welche Ausländer und genehm sind und welche nicht? Aber wenn dann Lars Unnerstall im Tor des FC Aarau eine Glanzleistung zeigt, dann jubeln ihm alle zu - gut er hat ja nur einen Vertrag bis im Mai und geht dann wieder zurück nach Gelsenkirchen. Liebe ausländische Mitbewohner dieses Landes, macht doch einfach alle mal einen Tag frei, das wäre mal ein Zeichen. Die Schweizer Wirtschaft würde stillstehen!

Ich habe mir die Frage gestellt, wie das sehr knappe Resultat zustandegekommen ist. Okay, hätten alle die, die eben dieses Zeichen setzen wollen (und ich kenne da ein paar!) einfach so gestimmt, wie sie sonst immer stimmen, dann hätten die knapp 20'000 Stimmen nicht gereicht. Oder man hätte auch einfach das Tessin den Italienern schenken können, von da kamen sehr viele Ja-Stimmen. Aber den Braten so richtig feiss gemacht, haben auch die Ticinesi nicht. Also, wer war es? Dann vermutlich die Gegegenden der Schweiz, in welchen es die meisten Ausländer hat. Das wären dann also Genf, Baselstadt, Waadt, Zürich oder auch Zug... Oh, die haben ja alle NEIN gestimmt! Ganz im Gegensatz zu Kantonen wie Appenzell, Uri oder Obwalden, da liegt der Anteil Ausländer bei rund 10 Prozent und alle haben die MEI angenommen?




Und dann gab es ja noch das Argument, dass die vielen Ausländer in der Schweiz dafür sorgen, dass es hier zu eng wird. Sprich die Züge sind überfüllt und auf den Strassen gibt es Stau und für die Kriminaltität in den Städten sind die Ausländer auch verantwortlich. So würde es also naheliegen, dass die Städter alle Ja gesagt hätten: haben sie aber nicht. Im Aargau haben alle Städte die Initiative abgelehnt, ausser Laufenburg! Und dieser Trend zieht sich so ziemlich konstant durch die ganze Schweiz. Gestern oft genannt wurde auch der Kanton Luzern, lag wohl daran dass ich das Weekend in diesem schönen Zentralschweizer Kanton verbracht habe, eben: von konservativen Wählern war die Rede. Nun, das mag sein, aber siehe da:


Und ja, die Schweiz hat mit 23 Prozent einen, im Verhältnis hohen Ausländeranteil. Unser Land wächst durch Einwanderer jährlich um rund 80'000 Menschen. Die seit 2000 vergleichsweise hohe Zuwanderung wurde aber ausgelöst durch den Bedarf von Schweizer Firmen an Fachkräften, sprich, wir sind es ja, die diesen extrem hohen Lebensstandart wollen und dieser wurde nur möglich, durch ausländische Arbeitskräfte. Das Ergebnis von gestern steht darum in einem massiven Widerspruch zu unseren wirtschaftlichen Ansprüchen. Das hat aber scheinbar niemand kapiert! Den meisten Ja-Sagern waren nicht die Arbeitskräfte oder der tolle Torwart oder die nette Dame am Kiosk oder der lustige Goran aus dem Turnverein im Hinterkopf, sondern der "Jugo, der immer so durchs Quartier rast mit einem 3er BMW", "diese Schwarzen am Bahnhof, die mit Drogen dealen", "diese Iraker, welche unsere Frauen vergewaltigen" oder "diese aggressiven Nordafrikaner, welche ständig Schlägereien anzetteln". Dazu galt auch das Argument der Einbürgerung nicht mehr, "auch wenn einer eingebürgert ist, bleibt er ein Ausländer und darum beträgt der Ausländeranteil bei uns auch fast 50 Prozent", zitiere ich einen Politiker. Kurz, weil die Schweizer Justiz tatsächlich vorhandene Probleme, egal ob von Schweizern oder Ausländern produziert, nicht in den Griff kriegt, müssen nun rechtschaffende Ausländer darunter leiden? Vom Bild der Schweiz im Ausland, den anstehenden Problemen, der Schweizer Fussball-Nati oder anderen Folgen dieses Entscheids möchte ich an dieser Stelle erst gar nicht anfangen. Aber was mach ich mir überhaupt Gedanken? Die SVP-Vertreter betonen seit gestern in JEDEM Interview, dass sie mit der Umsetzung dieser Initiative nichts zu tun hätten, das wäre nun Sache des Bundesrates...

Habe fertig. Zum Schluss ein Ausschnitt aus einem Mailkontakt von heute Morgen zwischen der Schweiz und einer Berliner Radiostation, welche sich Sorgen um die (Zitat) "paranoide Schweiz" gemacht hat: "Gruss au der geteilten Schweiz: niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen, müssen wir ja auch nicht – die in den Köpfen sind seit gestern dick zementiert. Ich wünsche mir darum ein Lied bei euch, um der Welt zu sagen, nicht alle Schweizer sind gegen Ausländer und wir mögen euch. Rettet uns vor dem steten Kapitalismus und der Angst vor dem Fremden, spielt Musik für uns…"


Und ach ja, liebe Schweizer Sportfreunde, die ihr gestern Ja gestimmt hat und euch bei Olympia über die menschenverachtenden putinschen Gesetze gegen Homosexuelle aufregt und euch dann über die Goldmedaille des Zürcher Boardes Iuri Podladtschikow freut, so kurz nachdem ihr im Facebook noch Stanislas Wawrinka in den Tennishimmel gelobt habt... erst nachdenken und dann aufregen oder freuen!


Quellen: 
http://www.martingrandjean.ch/suisse-la-votation-sur-limmigration-en-un-graphique/
http://amade.ch/2014/02/dichtestress-fremdenhass/?fb_action_ids=10201381675249402&fb_action_types=og.likes
http://www.berliner-zeitung.de/home/10808950,10808950.html